Die lange Wertschöpfungskette der Musik in den Blick nehmen

Hans Jessen im Gespräch mit Christian Höppner

Wie bewerten Sie die Reaktionen der politischen Institutionen in Bund, Ländern und Kommunen auf die Notlage? Im Bundestag beklagt die Opposition, dass im Februar noch immer an der Auszahlung der Novemberhilfen gearbeitet wird. Sind die besonderen Bedingungen der Arbeit im Kultursektor noch immer nicht auf allen staatlichen Ebenen angekommen?  

Sehr unterschiedlich. Der Bund hat, mit Ausnahme von Wirtschaftsminister Altmaier, gut vorgelegt, die Länder hinken teilweise hinterher. Die kulturelle Infrastruktur wird jetzt vor allem für die politischen Akteure auf allen föderalen Ebenen in ihrer Vielfalt sichtbar, wie das vor Corona nicht immer der Fall war. Eine Chance, diese kulturelle Vielfalt durch konkrete Mittelfrist-Perspektiven, wozu auch die dringend notwendige soziale Absicherung Kreativschaffender gehört, zu erhalten und auszubauen. Der mancherorts verengte Blick auf die Tagesaktualität und ausufernde Bürokratie sind Stolpersteine auf diesem Weg.

 

Welche Forderungen stellen Sie an die verschiedenen politischen Entscheidungsebenen? Lassen sich überhaupt konkrete Forderungen stellen? Im Moment kann ja niemand absehen, wie die Pandemie und die Restriktionsmaßnahmen sich in den nächsten Monaten weiterentwickeln? 

An erster Stelle steht die Selbstverpflichtung der Länder und Kommunen, die kulturelle Vielfalt und deren Infrastruktur zu sichern und Perspektiven zu geben. Der Deutsche Musikrat hat gemeinsam mit den Landesmusik­räten bereits im Juni 2020 von den Länderparlamenten gefordert, durch eine Verpflichtungsermächtigung die Haushaltsansätze für den Bereich der Kultur aus dem Jahr 2020 auf drei bis vier Jahre fortzuschreiben. Das hätte den großen Vorteil, über das Superwahljahr mit einer Bundestags- und sechs Landtagswahlen zu kommen mit gesicherten Haushaltsansätzen für die dann folgenden Jahre. Wir müssen leider davon ausgehen, dass die öffentlichen Haushalte in eine so dramatische Situation geraten, wie wir sie im Nachkriegsdeutschland noch nicht kannten. Es steht zu befürchten, dass alles, was nicht niet- und nagelfest ist, gestrichen oder radikal gekürzt werden wird.

Deswegen brauchen wir solche Sicherungsinstrumente, damit ein Grundpfeiler unseres Zusammenlebens, die kulturelle Vielfalt, nicht wegbricht. Bekenntnisse zur Bedeutung unseres Kulturlebens sind gut und wichtig, reichen aber in dieser beispiellosen Krise nicht, um die wachsende Diskrepanz zwischen Sonntagsrede und Montagshandeln aufzuhalten. Die Finanzierung des öffentlichen Kulturlebens muss sich konkret in den Haushaltsplänen auf allen föderalen Ebenen widerspiegeln. Das erfordert auch die Bereitschaft der Politik, hier Prioritäten zu setzen. Es ist in diesem Superwahljahr eigentlich schon 5 nach 12 für diese Festlegung. Hier müssen vor allem die Kommunen gegenüber den Ländern im Hinblick auf die Finanzierungsbedarfe Druck machen – Kultur findet ja wesentlich auf kommunaler Ebene statt.

 

Gibt es eigentlich, neben den existenziellen sozialen und ökonomischen Notlagen, über die wir gesprochen haben, auch so etwas wie positive Auswirkungen der Krise, wenn man das nicht zynisch versteht – die Pandemie als Lernprovokation? Ihr Musikerkollege Daniel Hope hat mit den im Fernsehen übertragenen Hauskonzerten „Hope at home“ ein ganz neues Format geschaffen, von dem er Teile auch zukünftig nutzen will.

Daniel Hope hat das auch genial kommuniziert, und er ist nicht allein: Ich kenne viele andere, ob im Amateur- oder professionellen Bereich, die solche Wege gehen. Vor einigen Tagen hat mir die Bratschistin Tabea Zimmermann von ihren Erfahrungen mit neuen Formaten erzählt: Da wird ein Hausflur zum Treffpunkt gemeinsamer Hausmusik. Diese Beispiele sind faszinierend und berührend.

Ich wünsche mir, dass das Thema Digitalisierung, das in Politik und Gesellschaft ja weitgehend in Hinblick auf technologische Aspekte diskutiert wird, mehr unter der Frage steht: Was bietet uns der digitale Raum, was können wir da ausprobieren? Das hat durch Corona auf jeden Fall einen Schub bekommen. Zu bedenken ist allerdings, dass bislang die Mehrzahl der digitalen Formate nicht monetarisiert werden können. Das bedeutet, dass die Musikerinnen und Musiker zwar Aufmerksamkeit bekommen, aber keine Vergütung – und daran mangelt es derzeit doch zentral. Ich denke, dass nach Corona das Kulturleben auch anders aussehen wird. Was nicht heißt, dass es „digitaler“ wird oder dass wir zurückkommen zum alten analogen Kulturerleben – ich glaube, es wird ein Miteinander beider Formen geben.

Darauf bin ich gespannt, aber auch aus der Überzeugung, dass das analoge Kulturerleben durch nichts wird ersetzt werden können. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir das, was Kultur bedeutet, komplett virtualisieren können. Und ich würde es mir auch nicht wünschen. Kultur lebt von der unmittelbaren Begegnung.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2021.

Christian Höppner & Hans Jessen
Christian Höppner ist Generalsekretär des Deutschen Musikrates und Kulturratspräsident a.D. Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
Vorheriger ArtikelErfolge nicht verspielen
Nächster ArtikelVorerst geschlossen