Carsten Brosda - 27. März 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Corona vs. Kultur

Der Nachhall des Schocks


Kulturelle Perspektiven aus der Corona-Pandemie

Der demokratische und liberale Geist unseres Gemeinwesens ist nirgendwo so unmittelbar zu spüren wie an unseren öffentlichen gesellschaftlichen und kulturellen Orten. Ohne diese Räume sind moderne, aufgeklärte Gesellschaften nicht denkbar; erst sie ermöglichen die Gemeinschaft, in der wir zu uns selbst finden. Doch es sind genau diese Orte, die derzeit verschlossen bleiben müssen, um die Welle der Neuansteckungen mit dem Coronavirus zu brechen. Was wir jetzt machen müssen, fühlt sich so falsch an und ist dennoch in diesem Moment richtig.

 

Die Lage ist ohne Frage beispiellos dramatisch. Die langfristigen Folgen für unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft und unsere Kultur vermag derzeit niemand abzusehen: Die Theater und Museen sind geschlossen, ebenso die Konzerthäuser, Clubs und soziokulturellen Zentren sowie alle weiteren Orte, an denen sich Bürgerinnen und Bürger bislang begegnen, gemeinsam Kultur erleben und gestalten können. Es ist paradox: Wir müssen Solidarität und Empathie füreinander empfinden können, um das zu leisten, was derzeit notwendig ist – Abstand zueinander zu halten und Distanz zu wahren. Das fällt nicht leicht, das ist oftmals sogar kontraintuitiv – und doch ist es so notwendig, um die weitere Ausbreitung des Virus so weit zu verlangsamen, dass wir die Kapazitäten unseres Gesundheitssystems nicht überlasten.

 

Ebenso notwendig ist es, dass wir die immensen ökonomischen Folgen dieser Entscheidungen abfedern. In den Schutzschirmen von Ländern und Bund sind Kultur und Kreativwirtschaft ebenso ein integraler Bestandteil wie in den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen von Kurzarbeit und Grundsicherung. Selten ist in einer ökonomischen Krise so intensiv auch über Soloselbständige und Kleinstbetriebe gesprochen worden wie derzeit. Das ist richtig: Die nötigen Eingriffe sind immanent ein beinahe direkter Angriff auf die verletzlichen und prekären Strukturen der Kulturwirtschaft. Sie werden von den aktuellen Beschränkungen ganz besonders hart getroffen. Es ist ein gutes Signal, dass das Bewusstsein für diese Bedrohtheit mittlerweile so sehr gewachsen ist, dass die Interessen der Kultur von Anfang an mitberücksichtigt wurden. Aber wir alle wissen auch: Die jetzt anlaufenden Hilfs- und Notmaßnahmen können nur das Schlimmste mildern, einen vollständigen Ausgleich bieten sie nicht.

 

Deshalb sind wir alle gefordert, schon jetzt die Zeit nach der Pandemie, nach den Ausgangsbeschränkungen und den Notmaßnahmen in den Blick zu nehmen. Denn es ist mehr als absehbar, dass wir nicht einfach zum Status quo ante zurückkehren werden. Es ist vielmehr recht wahrscheinlich, dass wir unsere Welt nach den Erfahrungen dieser Wochen anders betrachten werden. Wir werden Prioritäten und Routinen neu bewerten und sicherlich auch zu anderen Entscheidungen gelangen. Der Historiker Yuval Noah Harari hat in der Financial Times darauf hingewiesen, dass solche globalen Krisen oft Veränderungen mit sich bringen, für die es unter normalen Umständen Jahrzehnte brauchen würde, die nun aber aufgrund der monströsen Außergewöhnlichkeit der Lage einfach geschehen, weil das Gewohnte nicht mehr lebbar und der Drang zur plausiblen Alternative unmittelbar ist.

 

Wir erleben das bereits jetzt in den kleinen und kleinteiligen Strukturen des öffentlichen kulturellen Lebens. Auf einmal sprießen die digitalen Angebote aus allen Ecken des Netzes. DJs legen virtuell auf, Museen zeigen ihre Ausstellungen online, Theater und Opernhäuser streamen Aufführungen, Igor Levit spielt auf Twitter, Saša Stanišić liest an gleicher Stelle, Theaterschulen stellen kleine Clips ihrer Schülerinnen ins Netz – die Liste ließe sich endlos fortsetzen.

 

Und der Hashtag stimmt: #CultureDoesntStop. Wie schön! Die Kraft dieser Kreativität lässt erahnen, was noch alles möglich sein wird – auch aus freien Stücken und nicht bloß als verzweifelt trotzige Alternative zum derzeit nicht Möglichen. Daraus aber wächst auch die Verantwortung, die Folgen heutigen Handelns für die Zeit danach in den Blick zu nehmen. Es geht bereits jetzt um die Liberalität und die Solidarität unserer künftigen Gesellschaft.

 

Denn natürlich spüren wir derzeit einen enormen Verlust an Freiheit und Gemeinschaft. Uns wird bewusst, welche Bedeutung all jene Orte und Erlebnisse besitzen, die wir in den vergangenen Jahren vielleicht für ein wenig zu selbstverständlich gehalten haben. Erst wenn etwas weg ist, wächst das Bewusstsein für seinen Wert. Hie-rin mag eine paradoxe Chance der aktuell schrecklichen Situation liegen: Uns kann bewusst werden, was uns ausmacht – und zwar in dem Moment, in dem wir uns selber die Möglichkeit nehmen müssen, es zu leben: „Europa ist in den Städten entstanden. Sich zu Fuß über einen Platz zu bewegen, dort zu flanieren, zu diskutieren, zu handeln, das ist die wesentliche europäische Erfahrung, der freie politische Diskurs im Café ist eine historische Errungenschaft“, hat Nils Minkmar im Spiegel geschrieben: „Der leere Markusplatz von Venedig, die leere Passage Vittorio Emanuele II in Mailand, die leeren Stadien sind Symbole: Wir sehen plötzlich besser, was es für Orte sind, frei und voller Versprechen, in denen man mehr machen kann, als Geld auszugeben und einzunehmen. Nachdenken und diskutieren, wie es jetzt weitergeht nach dem Wahnsinn, den wir für Normalität hielten.“

Wenn wir die Fragen des schieren Überlebens – des Gesundheitsschutzes und der ökonomischen Absicherung – im Rahmen des Möglichen geklärt haben, dann werden genau diese grundsätzlichen Fragen nach dem Sinn unserer offenen Gesellschaft mit Macht auf uns einbrechen. Dann werden wir uns nicht mehr davor drücken können, die kapitalistische Landnahme der offenen Verständigungsräume zu diskutieren, dann werden wir uns der Frage stellen müssen, wie eine gute Gesellschaft lebbar wird.

 

Das sind natürlich politische Fragen, die an den normativen Kern heranreichen. Aber es sind eben auch Fragen, die eine kulturelle Fundierung brauchen, die Künstlerinnen und Kreative unmittelbar und direkt herausfordern. Denn es geht um die spekulative Alternative, um den pragmatisch gelebten neuen Entwurf, um die Suche nach jener tiefsitzenden und umfassenden Solidarität, die die Freiheit und die Vielfalt unseres Zusammenlebens überhaupt erst ermöglicht. Wenn es stimmt, dass wir in existenziellen Krisen wie der derzeitigen letztlich alle Aspekte neu bewerten, auf denen unser Gesellschaftsmodell begründet ist, dann bleibt zu hoffen, dass Künstlerinnen und Musiker, Schriftstellerinnen und Tänzer, Kreative und Schauspieler diesen Diskurs beleben und mit ihren Positionen und Interventionen aufmischen.

 

Kunst hat die Aufgabe, Chaos in die Ordnung zu bringen, hat Theodor W. Adorno in seinen „Minima Moralia“ geschrieben. Doch wenn die Welt im Chaos versinkt und wir als Gesellschaft mittlerweile sogar versucht sind, autoritäre Haltelinien zu definieren, kann Kunst eine alternative, eine weiterhin freiheitliche und offene Ordnung anbieten. Es geht um Deutungsangebote unserer selbst, die eben nicht den Kontrollfantasien mancher Politiker folgen, sondern die auf die aufgeklärte Vernunft der Bürgerinnen und Bürger setzen.

 

Wir müssen auch und gerade jetzt auf die Einsicht der Bevölkerung setzen und eben nicht auf eine staatlich gewaltsam durchgesetzte Ultima Ratio. Bürgerrechte entfalten ihren Sinn gerade in der Krise. Wir müssen aufpassen, dass kurzfristige Nützlichkeitserwägungen nicht dazu führen, dass wir wichtige bürgerliche Freiheit beseitigen. Wer Bürger per Handy orten will, weil sie als Infizierte gefährlich für die Allgemeinheit sind, der stoppt in der Durchsetzung dieser Idee vielleicht nicht bei der Bekämpfung einer Pandemie, sondern entwickelt weitergehende Fantasien, die gefährlich nahe an den Bildern jener Kontrollstaaten enden, die wir bislang nur aus dystopischen Science-Fiction-Filmen kennen.

 

Gerade jetzt geht es darum, die Freiheit unserer Gesellschaft zu bewahren. Nur wenn uns das gelingt, werden wir die aktuell notwendigen Einschränkungen vernünftig aushalten können. Wenn es uns aber gelingt, das Bewusstsein für den derzeitigen Verzicht zu sichern, dann besteht die Hoffnung, dass neue Sensibilität wächst – für den Wert und die Bedeutung all jener Orte und Angebote, die es uns ermöglichen, in Freiheit und Offenheit und Vielfalt miteinander zu leben.

 

Es liegt nahe, in diesen Tagen noch einmal Albert Camus’ Roman „Die Pest“ zu lesen. Dort finden sich am Ende beinahe rauschhafte Beschreibungen der Momente nach dem vorläufigen „Sieg“ über die Krankheit: „Alle schrien oder lachten. Der Vorrat an Leben, den sie während der Monate angelegt hatten, da ihr Lebensflämmchen nur noch ganz niedrig brannte, gaben sie an einem Tag aus, der wie der Tag ihres Überlebens war. Am nächsten Tag würde das eigentliche Leben mit seiner Vorsicht anfangen. Im Augenblick verbanden sich die Leute sehr verschiedener Herkunft und tranken Brüderschaft. Die Gleichheit, die die Gegenwart des Todes nicht wahrhaftig verwirklicht hatte, wurde jetzt wenigstens für ein paar Stunden von der Freude über die Erlösung geschaffen.“

 

Dieses Gefühl der Gleichheit in der Bedrohung kann zu einem neuen Bewusstsein für Gesellschaft und Kultur führen – und damit letztlich ja auch zu der Solidarität, um die es auch geht. Nicht nur für einen rauschhaften Moment, sondern als Nachhall eines viel tiefer gehenden Schocks, der uns die Verletzlichkeit unserer Existenz vor Augen führt – und uns fordert, sinnhafter mit ihren Möglichkeiten umzugehen.

 

Denn es stimmt! Hinter den derzeitigen Beschränkungen liegen all die Momente, die uns schon jetzt Gänsehaut bereiten können, wenn wir nur an sie denken: das Augen öffnende Theaterstück, die Perspektiven erweiternde Ausstellung, das in die Magengrube zielende Konzert, die verschwitzte Club-Nacht, die beseelte Diskussion in einem Stadtteilkulturzentrum … Es kann großartig werden, wenn sich dann alle daran erinnern, wie sehr sie derzeit diese Momente schon vermissen. Und wenn wir alle jetzt schon daran arbeiten, die Grundlagen unserer auf Freiheit und Vielfalt gegründeten Gesellschaft zu festigen. Wir werden viel zu diskutieren haben, wenn wir das Coronavirus abgewettert haben. Vieles wird anders. Ob es auch besser wird, hängt davon ab, ob wir uns schon jetzt das Bewusstsein der Freiheit bewahren, Solidarität leben und Vernunft und Augenmaß sichern.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2020.


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