Martin Hufner - 28. April 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Corona vs. Kultur

Der künstlerische Wert des Analogen


Ästhetische Probleme der digitalen Transformation von Kunst

Ohne Publikum scheint alle Kunst verloren. Das lässt sich in der aktuellen Extremsituation der globalen Corona-Pandemie wie unter Laborbedingungen, bei dem dem Publikum der Zugang zu Konzerten, Theatern, Museen, Opernhäusern oder Clubs verwehrt ist, beobachten. Dies machten eklatant die sogenannten Geisterkonzerte deutlich, bei denen die musikalischen Akteure so tun, als spielten sie ein ganz normales Konzert – nur eben ohne nennenswertes Publikum – wie sie zu Beginn der Corona-Krise noch – in der vagen Vermutung, dass Musiker gegen das Virus immun sein könnten – zu sehen waren. Das Konzert von James Blunt in der – bis auf die anwesenden Musikerinnen und Musiker – leeren Elbphilharmonie im März strahlte so eine vollkommen aseptische und zugleich bedrückende Glätte aus, bei der die von Computertechnik gesteuerten Lichtanlagen einer Musik ihre ganze seelenlose Maschinenwirklichkeit entgegenstellten. So absurd wie aus einem Zukunftsroman wirkte es, gerade so, als spielten hier menschliche Klangsklaven zur Ergötzung von Robotern. Und irgendwo an irgendwelchen Endgeräten – Computer, Smartphone, Smart-TVs – saßen dann noch irgendwelche beinahe überflüssig wirkende Kunstverbraucher. In Erinnerung an einen italienischen Fussballtrainer eines großen deutschen Vereins könnte man schlicht sagen: Halle leer, Kunst tot. Kunst ohne Publikum scheitert.

 

Das Publikum ist offensichtlich eben nicht nur da, für den Kunstgenuss zu bezahlen und die Akustik von Räumen zu verbessern, das Publikum ist ein zwingend nötiger Resonanzraum zur Konstitution von Kunstwerken – so wie die Architektur in Museen für die dort jeweils präsentierte Kunst ja auch (oder die Gestaltung von Kunsträumen an sich). Hinzu treten bisweilen als lästig empfundene zusätzlich ausgelöste Sinnesempfindungen, die durch olfaktorische Dunstglocken erzeugt werden. Im engen Club müffelt das Vergnügungsvolk tratschend, im Kammermusiksaal raschelt es zum Grundrauschen bei 4711, Tosca und Eternity. Und selbst hustende, den Blick verstellende Lebewesen fehlen einem plötzlich ebenso wie im gleichen Geist kontemplativ sich der Kunst Hergebende, die mit geschlossenen Augen im Konzertsaalsitz versinken.

 

Die Musik ist schon noch einmal mehr betroffen, weil sie eine Live-Kunstform ist. In Zeiten von Abstandhalten und Kontaktvermeidung zeichnet sich ab, dass eine Transformation des analogen Konzertes in die digitalen Medien gar nicht so einfach zu vollziehen ist.

 

Es handelt sich dabei um ein Phänomen, das offenbar mit gemeinschaftlicher Wahrnehmungstätigkeit vor allem bei Live-Situationen zu tun hat, denn beim Radio- oder CD-Hören tritt dieses Phänomen nicht in Erscheinung, genau so wenig wie bei komplex produzierten Videoclips und Studioaufnahmen, die ja explizit für die Solo-Wahrnehmung hergestellt werden. In einer Zeit wie der jetzigen fällt dieser Umstand besonders auf, weil Konzerte im herkömmlichen Sinne aktuell nicht mehr stattfinden können. Das Konzert in den digitalen Raum zu verlegen, mit einzelnen Menschen vor Bildschirmen, bereitet dagegen wenig Freude, es verkleinert das Kunsterleben zu einer Geste und die Kunst zu ästhetischen Krümeln. Der Eindruck, es handle sich musikalisch wie ästhetisch „nur“ um eine Probensituation, ist offensichtlich. Die Art und Weise, wie die Musizierenden vor den Kameras „Aufregung“ empfinden, ist eine jeweils sehr andere. Für die Künstlerinnen und Künstler wie für das Publikum. Die ganze Welle von gestreamten Wohnzimmerkonzerten hat regelmäßig den Charme eines musikalischen Homeoffice bei reduzierter Selbstpflege und -achtung.

 

Die in Berlin arbeitende Harfenistin Kathrin Pechlof benennt das Problem in einem Instagram-Posting präzise, wenn sie sagt, dass sie es in den letzten vier Wochen sehr vermisst habe, für ein Publikum zu spielen und mit diesem gemeinsam Konzerte zu erleben. Die virtuelle Version eines Konzertes werde für sie niemals die spirituelle Erfahrung eines gemeinsamen Konzerts mit Publikum ersetzen können.

 

Das Publikum macht die Musik! Es schadet natürlich nicht, wenn man neue Wege sucht, neue Konzertsituationen zu gestalten, aber für eine angemessene Rezeption von Musik ist das offenbar gar nicht so hoch zu bewerten. Interessant wird es bei neuen Mischformen wie sie bei der Aufführung der reduzierten Bach’schen „Johannes-Passion“ am Karfreitag in der Thomaskirche in Leipzig entstanden, bei dem man notgedrungen auch Streams von fremden Orten einband, und das alles zeitgleich über Internet und öffentlich-rechtliche Rundfunkstationen übertragen wurde – mit Chorälen zum Mitsingen in der eigenen Stube. Das hat eine durchschlagende Kollektivsituation erzeugt, der sich wahrscheinlich niemand entziehen konnte, der dieses Ereignis miterlebt hat. Eine einmalige und in dieser Form unwiederholbare und unwiederbringliche Erfahrung.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.


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