Pragmatismus und Respekt

Über neue Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens anhand von Brechts "Kinderhymne"

Ein Text von Bertolt Brecht geht mir in diesen Tagen nicht aus dem Sinn: „Die Kinderhymne“, singbar auf die Melodie der Nationalhymne, aus dem Jahr 1950. Diese Kinderhymne war Brechts Kommentar zum Lied der Deutschen in der jungen Bundesrepublik, die sich seiner Meinung nach allzu gradlinig aus dem nationalsozialistischen Deutschland entwickelt hatte. Die Tonalität dieser Kinderhymne begleitet meine Überlegungen zur aufgegebenen Fragestellung: Welche Werte halten wir als kulturelles Fundament unserer Gesellschaft für konstitutiv und was bedeutet es, in einer multireligiösen und von vielen verschiedenen Kulturen geprägten Gesellschaft zu leben? Ich empfinde es als ein bereicherndes Charakteristikum einer vielfältigen Kultur, dass ich mich als evangelischer Theologe dabei von einem atheistischen Dichter inspirieren lassen kann:

 

„Anmut sparet nicht noch Mühe /
Leidenschaft nicht noch Verstand /
Dass ein gutes Deutschland blühe /
Wie ein and’res gutes Land.“

 

Der erste Vers der Kinderhymne besticht durch seine sprachliche Schönheit, durch geistige Klarheit, emotionale Kraft wie durch seine schlichte Verständlichkeit. Er formuliert eine gesellschaftspolitische Vision so, dass im Wortsinn jedes Kind verstehen kann, worum es geht: Um ein gutes Land nämlich, das blühen soll und an dem mit Anmut, mit Herz, Verstand, Heiterkeit und Kraft gearbeitet werden will. Und sie erinnert in verständlicher Weise daran: Was für ein Kind gut ist, schadet auch Erwachsenen nur selten. Ich vermisse solche verständliche und einleuchtende Rede in der aktuellen deutschen Politik, ein einleuchtendes und nachvollziehbares Narrativ einer gelingenden Integration in einem Einwanderungsland Deutschland.

 

Nach der Wiedervereinigung in den 1990er Jahren gab es Versuche, dieses Gedicht von Bertolt Brecht als neue gesamtdeutsche Hymne zu etablieren, weit entfernt von einem ethnisch homogen interpretierten Nationalismus, aber eben doch mit einer nationalbewussten Aussage. Diese Versuche sind im Sande verlaufen. Die Wertedebatte, die damit verbunden gewesen wäre, konnte damals noch nicht geführt werden. In diesen Tagen brauchen wir eine breite Debatte darüber, wer wir als Deutsche sein wollen. Nicht nur weil die nationalistischen Stimmen in Europa und auch in Deutschland wieder Konjunktur haben. Sondern eben vor allem darum, weil »unser« Deutschland, »unser« Europa jetzt und in Zukunft immer mehr Männern, Frauen und Kindern zur Heimat werden wird, die keine deutsche oder europäische kulturelle Prägung erfahren haben. Realismus gebietet, diesen Sachverhalt anzuerkennen. Viele solcher Menschen leben bereits seit Jahrzehnten unter uns. Sie sind Teil unseres Deutschlands geworden. Und es ist heute auch keine Frage, ob noch mehr von diesen Menschen kommen, sondern nur wie und in welcher Anzahl.

 

„Die (…) vielleicht schwerste Übung erfordert das Anderssein des Anderen als Reichtum zu verstehen und einen kultursensiblen Umgang miteinander einzuüben.“

 

Der kulturell homogene Nationalstaat war schon immer eine Fiktion. Ihn ausgerechnet im 21. Jahrhundert zum Ideal politischen Handelns zu erklären, ist nichts anderes als ein politischer Anachronismus und eine rassistische Torheit, die hoffentlich bald ihre Zeit gehabt hat. In einer globalisierten Welt, deren Vorteile wir Europäer nur zu gerne genießen, geht es nicht mehr nur um die Beantwortung der Frage, wie wir als Deutsche miteinander leben wollen, sondern darum, wie wir als Menschen auf diesem Planeten mit seinen begrenzten Ressourcen miteinander überleben können, und wie sich nationale Gesellschaften so organisieren lassen, dass das zur Bereicherung aller und möglichst friedlich gelingt. Das ist der herausfordernde globale und historische Kontext, in dem wir über Werte sprechen. Die Allgemeinen Menschenrechte und das Grundgesetz markieren einen nicht zur Diskussion stehenden Rahmen, jenseits dessen, auch in unserem Land, der »Wilde Westen« bzw. der »Wilde Osten«, das Recht des Stärkeren oder der Biodeutschen drohen – das ist keine Basis für eine vielfältige und menschenfreundliche Kultur.

 

„Dass die Völker nicht erbleichen /
Wie vor einer Räuberin /
Sondern ihre Hände reichen /
Uns wie andern Völkern hin.“

 

Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schrieb Brecht diese Zeilen der zweiten Strophe seiner Hymne. In und nach diesem von Deutschland begonnenen Krieg hatten in Europa rund 60 Millionen Menschen ihre Heimat verloren, es kam zur größten Völkerwanderung nach der Antike. Die Gesellschaft hat unter diesen Belastungen in der Nachkriegszeit geächzt, aber sie ist nicht kollabiert. Im Gegenteil. Heute erbleichen die Völker vor Deutschland nicht mehr »wie vor einer Räuberin«. Für Ungezählte verbindet sich mit einem demokratischen und friedlichen Deutschland vielmehr Hoffnung. Unsere in fast 70 Jahren gereifte, erstrittene und durchgearbeitete Gesellschaftsform der parlamentarischen Demokratie mit einer sozialen Marktwirtschaft, eingebettet in einen europäischen Kulturraum, ist zu einem Sehnsuchtsort für viele geworden. Für manche – ich wage es kaum zu sagen – zu einem Vorbild. Das hätte sich 1950 niemand träumen lassen. Dass dieser Sehnsuchtsort als Festung Europa an seinen Grenzen buchstäblich verteidigt wird, auch nicht.

Ulrich Lilie
Ulrich Lilie ist Präsident der Diakonie Deutschland.
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