Eine doppelte Aufgabe

Dankesrede nach der Verleihung des Kulturgroschen 2016 durch den Deutschen Kulturrat

Für die Auszeichnung mit dem diesjährigen Kulturgroschen danke ich dem Deutschen Kulturrat herzlich. Ebenso herzlich bedanke ich mich für die Würdigung, die so freundliche Laudatio von Monika Grütters. Und es stimmt ja auch: Meine berufliche Prägung, also mein entschiedenes Interesse für die Künste und meine Leidenschaft für Kultur und Kulturpolitik haben mich in den 25 Jahren meines aktiven politischen Lebens nicht verlassen, im Gegenteil, sie haben mir in der Politik geholfen. Aber ich will keinen Rückblick halten, sondern ein paar ernsthafte Bemerkungen machen zu dem uns alle beschäftigenden Thema der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen – und welche Rolle Kultur und Kulturpolitik nach meiner Überzeugung dabei zu spielen haben.

 

Wir ahnen, dass die deutsche Gesellschaft sich durch Migration stark verändern wird. Sich auf diese Veränderung einzulassen, ist offensichtlich eine anstrengende Herausforderung, sie erzeugt Abwehr, provoziert Misstöne und Ressentiments und macht vielen (Einheimischen) Angst, vor allem unübersehbar und unüberhörbar im östlichen Deutschland. Pegida ist dafür ein schlimmes Symptom. Die Wahlerfolge der AfD sind es auch, sie sind eine negative Antwort auf die so sympathische Willkommenskultur vieler Deutscher in den vergangenen Monaten.

 

Vertrautes, Selbstverständliches, soziale Gewohnheiten und kulturelle Traditionen: Das alles wird unsicher, geht gar verloren. Individuelle und kollektive Identitäten werden infrage gestellt – durch das Fremde und die Fremden, die uns nahegerückt sind – durch die Globalisierung, die offenen Grenzen, die Zuwanderer, die Flüchtlinge. Die Folge sind Entheimatungsängste, die sich in der Mobilisierung von Vorurteilen, in Wut und aggressivem Protest ausdrücken. Genau das ist unsere demokratische Herausforderung und sie ist eine politisch-moralische Herausforderung: Dem rechtspopulistischen, rechtsextremistischen Trend, der sichtbar stärker und selbstbewusster geworden ist, zu begegnen, zu widersprechen, zu widerstehen.

 

Was ist zu tun? Worüber müssen wir uns in unserem Land, in unserer Gesellschaft verständigen? Angesichts des vielhunderttausendfachen Zustroms von Fremden, der vielen Probleme und Ängste und einer verunsicherten, gespaltenen Gesellschaft.

 

„Die zu uns Gekommenen sollen, sofern sie hier bleiben wollen, heimisch werden im fremden Land – und den Einheimischen soll das eigene Land nicht fremd werden.“

 

Es gilt, meine ich, vor allem zu begreifen, dass eine pluralistischer werdende Gesellschaft keine Idylle ist, sondern voller sozialem und kulturellem Konfliktpotential steckt. Das heißt auch zu begreifen, dass Integration eine doppelte Aufgabe ist: Die zu uns Gekommenen sollen, sofern sie hier bleiben wollen, heimisch werden im fremden Land – und den Einheimischen soll das eigene Land nicht fremd werden.

 

Heimisch werden heißt, die Chance zur Teilhabe an den öffentlichen Gütern des Landes zu haben, also an Bildung, Arbeit, sozialer Sicherheit, Demokratie und Kultur partizipieren zu können. Es heißt auch, menschliche Sicherheit und Beheimatung zu erfahren, was mehr ist als Politik zu leisten vermag, sondern Aufgabe vor allem der Zivilgesellschaft ist, ihrer Strukturen und Gesellungsformen, von deren Einladungs- oder Abweisungscharakter, also vom Ausmaß an Willkommenskultur, das wir in Deutschland durchhalten im prosaischen Alltag des Zusammenlebens.

 

Die Erfüllung dieser doppelten Aufgabe verlangt viel Kraft und viel Zeit. Erinnern wir uns an die Integration von 15 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen nach 1945, ein schwieriger Prozess der mindestens zwei Jahrzehnte gebraucht hat. Erinnern wir uns an die sogenannten „Gastarbeiter“. Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch hat vor Jahrzehnten auf einem SPD-Parteitag gesagt: „Wir haben Arbeitskräfte gerufen und gekommen sind Menschen.“ Die alte Bundesrepublik hat lange der Selbsttäuschung angehangen, dass man sich um die Gastarbeiter und deren Integration nicht kümmern müsse. Die Folgen dieser Fehleinschätzung sind bis heute wahrnehmbar. Und erinnern wir uns an die „innere Einheit“ der Deutschen: Auch nach 25 Jahren sind nicht alle Differenzen überwunden.

 

Die doppelte Aufgabe also, die der Begriff Integration meint: Sie wird nur dort gelingen, wo beide Seiten, sowohl die zu uns Kommenden wie auch die Aufnahmegesellschaft Integration wollen und das Notwendige dafür tun. Gegen die Mehrheit einer Gesellschaft kann Integration nicht gelingen und ohne die Integrationsbereitschaft und den Integrationswillen der zu uns Gekommenen auch nicht!

 

Nach den zunächst und vor allem notwendigen Anstrengungen zu unmittelbarer Hilfe und menschenfreundlicher Aufnahme muss sich unser Land dem Konfliktpotenzial einer pluralistischen, auch widersprüchlicher werdenden Gesellschaft stellen, wenn Integration – besser als in früheren Jahrzehnten – gelingen soll. Und diese Herausforderung ist nicht nur politischer, ökonomischer, finanzieller und sozialer Art, sondern ganz wesentlich auch kultureller Natur. Denn wenn in einer migrantischen Gesellschaft, die Deutschland noch mehr werden wird, Integration eine der großen Aufgaben ist und bleiben wird, dann müssen wir eine Vorstellung davon haben, wo hinein die zu uns Kommenden integriert werden sollen. Dann müssen wir die einfache und zugleich manchen unangenehme Frage beantworten, wer wir sind, was wir anzubieten haben, wozu wir einladen.

Wolfgang Thierse
Wolfgang Thierse ist Bundestagspräsident a. D., Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie.
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